Der Ranzen darf ruhig etwas schwerer sein

Die Warnung vor „überladenen“ Schulranzen ist wissenschaftlich nicht zu begründen. Im Rahmen einer Studie hat das Kidcheck-Team die Belastung von Kindern durch leichte und schwere Ranzen gemessen.

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Wie sich Schulranzen mit unterschiedlichem Gewicht auf die Körper von Kindern auswirken, haben Wissenschaftler des Kidcheck-Teams der Universität des Saarlandes gemessen.

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Erst wenn der Ranzen ein Drittel des Körpergewichts wiegt, muss sich das Kind anstrengen.

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Bei der Schulranzen-Studie wurden zuerst die Kinder und dann die Ranzen gewogen.

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Mit gepacktem Ranzen absolvierten die Kinder in der Sporthalle einen Hindernis-Parcours.

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Die Kinder mussten mit geschultertem Ranzen einen Medizinball aufheben und werfen.

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Dr. Oliver Ludwig untersucht im Rahmen der Ranzenstudie die Haltung eines Schulkindes.

Alle Jahre wieder tauchen zum Schulbeginn in den Medien landauf, landab Meldungen auf, die vor zu schweren Schulranzen warnen. Unter anderen sind es Krankenkassen, Ministerien, Tüv und sogar Ärzteorganisationen, die nicht müde werden, Eltern und Lehrern einzutrichtern, dass zu schwere Ranzen die Wirbelsäulen der Kinder ruinieren.

Alle Warnungen enthalten einen ähnlichen Richtwert: Der gepackte Ranzen dürfe nicht schwerer als zehn bis zwölf Prozent des Körpergewichts sein, um Haltungsschäden zu vermeiden. Sogar das Deutsche Institut für Normung legt in der DIN-Norm 58124 fest: „Der gefüllte Ranzen sollte am Ende nicht mehr als zehn Prozent des Körpergewichts des Kindes wiegen.“

Woher aber kommt diese Empfehlung? Selbst die Experten beim Institut für Normung in Berlin wissen es nicht. Der Wert steht seit vielen Jahren in der Norm, lässt sich wissenschaftlich aber nicht begründen und wird dennoch ständig ungeprüft verbreitet. Daher wird der Wert bei der anstehenden Neufassung der Norm wohl gestrichen werden.

Mit dem Thema Schulranzen befasst sich Professor Dr. Fritz-Uwe Niethard, Direktor der Orthopädischen Klinik am Uniklinikum Aachen, seit Jahren. Er berät auch einen Ranzenhersteller bei der Entwicklung neuer Modelle. „Die Empfehlung von zehn Prozent stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie bezog sich darauf, wie schwer der Tornister eines Rekruten sein durfte, damit bei Langzeitbelastungen keine muskulären Ermüdungen auftraten“, erläutert Niethard. Mit Langzeitbelastung waren Märsche ab 20 Kilometern gemeint.

„Diesen Wert auf Ranzen und Schulkinder anzuwenden, ist völlig unrealistisch“, kritisiert der Orthopäde. „Es gibt zudem keinen einzigen Beleg dafür, dass der Rücken eines Kindes geschädigt wird, wenn es einen schwereren Schulranzen trägt.“

Auch der ärztliche Leiter der Aktion Kidcheck, Professor Dr. Eduard Schmitt von der Orthopädischen Universitätsklinik der Universität des Saarlandes, kennt keine Untersuchung, die Rückenschäden durch schwere Ranzen nachgewiesen hätte. Beim Kidcheck, einer gemeinsamen Aktion der Saar-Uni und der Saarbrücker Zeitung, untersuchen Orthopäden, Neurologen, Humanbiologen, Sportwissenschaftler und Physiotherapeuten seit 1999 Kinder und Jugendliche auf Haltungsschwächen und -schäden und erstellen bei Bedarf Trainings- und Therapiepläne.

In einer Studie hat das Kidcheck-Team jetzt überprüft, wie schwerere Schulranzen auf den Körper von Kindern einwirken. An den Untersuchungen nahmen 60 Mädchen und Jungen der Klassen zwei und drei mehrerer Saarbrücker Grundschulen teil. Zunächst wurden die sieben und acht Jahre alten Kinder und dann ihre Ranzen gewogen. Das Durchschnittsgewicht der Kinder lag bei 27 Kilogramm. Das leichteste Kind war 22, das schwerste 32 Kilogramm schwer. Die Ranzen wogen im Schnitt fünf Kilogramm, beim schwersten Exemplar zeigte die Waage sieben Kilogramm an.

„Im Durchschnitt hatte jeder Ranzen ein Gewicht, das bei 17,2 Prozent des Körpergewichts der Kinder lag“, erläuterte Dr. Oliver Ludwig, der wissenschaftliche Leiter des Kidcheck. Somit waren die Ranzen deutlich schwerer als die empfohlenen zehn Prozent. An der nächsten Station nahmen die Wissenschaftler die Körperhaltung der Kinder unter die Lupe. Die Mädchen und Jungen mussten zunächst ohne Ranzen so aufrecht stehen, dass von der Seite gesehen Knöchel, Schulter und Ohr auf einer Linie lagen – der sogenannten Lotlinie. Diese Haltungsanalyse zeigt, ob Muskelkraft und Muskelsteuerung ausreichen, um den Körper aufzurichten und in dieser Position zu halten. Bei einigen der Kinder registrierten die Experten leichte, aber keine auffälligen Haltungsschwächen. Danach wurde die Messung mit dem Ranzen auf Rücken wiederholt. Die Kinder reagierten auf das Gewicht. Sie verlagerten ihren Körper leicht nach vorn. „Das ist die natürliche Reaktion darauf, dass sich durch den Ranzen der Körperschwerpunkt etwas nach hinten verschiebt“, erklärt Oliver Ludwig.

Die Verlagerung nach vorn kostete die Kinder jedoch kaum Energie. Eine Messung der Muskelaktivität des Rumpfes per aufgeklebter Elektroden belegte, dass nur eine geringfügige Muskelanspannung erfolgte. Das heißt, dass das Gewicht des Ranzens den Körpers nicht nennenswert belastete. Nun mussten die Kinder mit ihren Ranzen auf den Rücken einen Hindernis-Parcours bewältigen, der in der Sporthalle der Turmschule in Dudweiler aufgebaut war. Die Grundschüler sollten sich nicht nur zügig vorwärtsbewegen, sondern auch über Rampen und weiche Matten gehen, unter Hindernissen hindurchschlüpfen, sich nach einem Medizinball bücken, diesen hochheben und werfen, über Bänke balancieren und einen mit Keulen markierten Slalomkurs meistern. Mit dieser Anordnung wurde ein anspruchsvoller Schulweg simuliert.

Die Kinder waren 15 Minuten lang ununterbrochen in Bewegung, weil eine Befragung unter den Eltern von Grundschülern ergeben hatte, dass für die längsten zu Fuß zurückgelegten Schulwege etwa zwölf bis 15 Minuten erforderlich sind.

Nach dem Parcours wurde die Körperhaltung der Kinder erneut analysiert. Sie hatten dabei immer noch die Ranzen auf den Rücken, aber trotz des „anstrengenden Schulwegs“ war die Körperhaltung nicht schlechter als vorher. Die Muskulatur war nicht merklich ermüdet, obwohl die Ranzen deutlich schwerer als zehn Prozent des Körpergewichts waren.

Das Kidcheck-Team stellte schließlich fest, dass eine nennenswerte Aktivität von Bauch- und unterer Rückenmuskulatur überhaupt erst messbar wurde, wenn das Ranzengewicht ein Drittel des Körpergewichts ausmachte. Erst bei dieser Last änderte die Wirbelsäule ihre Position und die Ruhehaltung wurde instabil. Allerdings spannten sich jetzt auch die Muskeln deutlich an, um den Körper zu stabilisieren. Dadurch wurde die Wirbelsäule entlastet. „Selbst ein schwererer Ranzen wird eine gesunde kindliche Wirbelsäule nicht schädigen. Dazu wirkt das Gewicht viel zu kurz auf den Rücken ein“, erläutert Eduard Schmitt. Ins gleiche Horn stößt Fritz-Uwe Niethard von der Uniklinik Aachen: „Eine größere Last stellt für den Kinderrücken nicht gleich eine Belastung dar. Sie ist im Allgemeinen unbedenklich, wenn das Kind fit ist und das Gewicht nur kurzzeitig trägt.“ Schmitt betont, ein kurzfristig getragener schwererer Ranzen könne sogar die Rumpfmuskulatur bewegungsarmer Kinder trainieren. Dem stimmt Fritz-Uwe Niethard zu: „Ein schwererer Ranzen hat einen Trainingseffekt. Er aktiviert die Muskulatur, die die Wirbelsäule stabilisiert.“ Da fast 50 Prozent aller Kinder so schwache Bauch- und Rückenmuskeln haben, dass sie sich nicht dauerhaft gerade halten können – wie weitere Kidcheck-Studien gezeigt haben –, muss jedes Training zur Kräftigung willkommen sein.

Schwache Rumpfmuskeln können die Wirbelsäule nicht im gewünschten Maß fixieren. Diese schwingt daher beim Gehen und Laufen stark hin und her und wird ungünstig belastet. Doch ein schwererer Ranzen führte selbst bei den muskelschwächeren und molligeren Kindern nicht zu signifikanten Ermüdungserscheinungen der Rumpfmuskulatur. „Selbst bei schlaffer Muskulatur wirkt ein Ranzen zu kurz auf den Rücken ein, um die passiven Strukturen wie Wirbelbogen-Gelenke, Bänder und Bandscheiben schädigen zu können“, sagt Studien-Leiter Oliver Ludwig. Die Angabe, dass ein Schulranzen nur zehn Prozent des Körpergewichts des Kindes wiegen dürfe, ist ein reiner Schätzwert. Er ist wissenschaftlich nicht zu begründen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass ein schwererer Ranzen den Rücken schädigt. „Aber heute ist es modern, dem Kind jedweden Schutz angedeihen zu lassen anstatt es auch mal zu belasten und seine Kräfte messen zu lassen“, kommentiert Fritz-Uwe Niethard.